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Titel
Historicus*. Wie wir Geschichte erleben. Resonanz – Verstehen – Begegnung


Autor(en)
Scriba, Friedemann
Erschienen
Darmstadt 2022: wbg
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Rein, Abteilung Geschichte, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

Friedemann Scriba legt mit Historicus∗ eine rund 500 Seiten starke Monographie vor, die sich grundlegend damit beschäftigt, wie Personen Geschichte erleben und verstehen. Dabei werden zahlreiche Impulse aus der Philosophie aufgegriffen, die an theoretische Überlegungen der Geschichtsdidaktik angeschlossen werden.

Friedemann Scriba stellt sich in der Einleitung seiner Monographie den zentralen Fragen, die sich aus dem Interesse am Beziehungsgefüge zwischen (Lebens-)Welt, Geschichte und Menschen ergeben: „Was macht Geschichte mit mir? Was macht Geschichte mit uns?“ (S. 10) und „Was mache ich mit Geschichte? Was machen wir mit Geschichte?“ (S. 11). Zentrales Anliegen der Arbeit ist es, Erkenntnisse zu bündeln und zu diskutieren, wie also Menschen Geschichte erleben. Damit stellt Friedemann Scriba den Menschen und menschliche Grundoperationen in den Fokus seiner Überlegungen. In der hermeneutischen Diskussion zur Beantwortung dieser Leitfragen nähert sich Friedemann Scriba aus drei Perspektiven, die jeweils drei Teilabschnitte seiner Monographie einnehmen und mit denen er das menschliche Erleben von Geschichte einzukreisen und zu verstehen versucht: Geschichte als Resonanz nach Hartmut Rosa, Geschichte als Verstehen in Anlehnung an Hans-Georg Gadamers Hermeneutik sowie Geschichte als Begegnung nach Emanuel Levinas sowie Avishai Margalit. „Meine Studie soll dabei ein Versuch sein, Geschichtsakte des Historicus∗ genauer in ihren Motiven (Resonanz), Operationsweise (Verstehen) und Vollzugspraktiken (Begegnungen als Zeitschaft) zu beschreiben und damit stärker reflektierte geschichtsakt-bezogene Entscheidungen bei Lehrpersonen anzuregen.“ (S. 36) Dieses Vorgehen erscheint zum einen innovativ, zum anderen gleichsam vielversprechend, möchte man mehr über das Beziehungsgeflecht zwischen menschlichen Verarbeitungs- sowie Verstehensprozessen und Geschichte wissen, um daraus Konsequenzen für Vermittlungs- und Aneignungsprozesse zu ziehen. Schlussendlich versteht Friedemann Scriba im Fazit Geschichte als Ressource zur Resonanzsteigerung im Weltverhältnis. Er nähert sich damit einem Erleben von Geschichte, das von Räumen, Perspektiven und Horizonten (S. 9f) geprägt und durch eine Veränderung dieser Aspekte dynamisch und wandelbar ist. Seine nahezu unzähligen Impulse aus der Philosophie und innovative Rückschlüsse können im Folgenden unmöglich vollumfänglich dargestellt werden. Daher werden hier einige wenige Momente aufgegriffen, die Einblicke in die Monographie geben möchten.

Zunächst stehen mögliche Beweggründe für eine Auseinandersetzung mit Geschichte im Zentrum der Überlegungen. Diese Motive schätzt Friedemann Scriba als vielfältig und oftmals als nicht-wissenschaftlich ein. „Menschen nutzen also Geschichte als Ressource für unterschiedliche [nicht-wissenschaftliche] Bedürfnisse (…)“ (S. 10). Die Beschäftigung selbst bezieht sich dann auf das individuelle Geschichtsbewusstsein, als „Ort (…) [der daraus resultierenden] Verstehensprozesse“ (S. 25). Um die Motive für eine solche Beschäftigung mit Geschichte weiter zu untersuchen, erfolgt eine fundierte Analyse des Konzepts der Resonanz, das unter Rückgriff auf die beiden Kategorien Raum sowie Zeit geschieht. Friedemann Scriba verbindet seine Diskussion hier ausdrücklich mit dem phänomenologischen Zugang der Leiblichkeit. So schlägt er vor, „die Resonanzsuche in Geschichte über kognitive und narrative Rekonstruktion und Deutung von Vergangenem hinaus auch im Leiblichen zu lokalisieren“ (S. 167). Seine Überlegungen entwickelt Friedemann Scriba zunächst in Anlehnung an Hartmut Rosa ausgehend vom Konzept der Geschichte als Erfahrungsraum, in dem sich „unser raumzeitlicher Horizont“ (S. 43) ausdehne, was das Moment der Erfahrung von Zeitlichkeit betone (S. 41). Hier gelingt es Friedemann Scriba eindrücklich, die Theorie mit anschaulichen Beispielen zu versehen und so die abstrakten Denkansätze schlüssig greifbar zu machen (S. 47). Da sich Friedemann Scriba auch mit phänomenologischen Theorien beschäftigt, hätte in diesem Kapitel ein Einbezug Bärbel Völkels phänomenologischer Didaktik des Zeitbewusstseins wertvolle weitere Anstöße liefern können, die sehr anschlussfähig erscheint.1 Besonders kompatibel wäre dieser Bogen, etwa wenn er Geschichte in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty als leibliche Resonanz begreift (S. 165ff.) oder die Grenzen der Narrativität unter Berücksichtigung des Konzepts der Deixis auslotet (S. 321ff.). Anschließend widmet sich Friedemann Scriba den Verstehensprozessen, die intensiv aus einer ästhetischen Sichtweise erschlossen werden, um sich dann dem Konzept der Begegnung zu widmen. Hier greift er das Moment des Horizonts und der „Horizontverschmelzung“ (Gadamer) wieder auf. Diese ausgewiesenen Bezüge steigern die Kohärenz des Werks.

Friedemann Scriba entwickelt im Verlauf seiner Monografie sukzessive subjektorientiert eine Persona Historicus∗ . Nach jedem Gedankengang greift Friedemann Scriba zentrale Aspekte auf und bezieht diese auf die Persona Historicus∗. Damit werden die zum Teil abstrakten Überlegungen pointiert zusammengefasst, so dass über die Lektüre des Gesamtwerks hinweg die Darstellungen dessen, was die Persona Historicus∗ ausmacht, immer reicher und greifbarer wird. Historicus∗ gewinnt von Seite zu Seite an Profil. So resümiert Friedemann Scriba u. a. etwa bei der Auseinandersetzung unter dem Aspekt Geschichte als Verstehen, dass die Persona Historicus∗ die historisch geformte Lebenswelt verstehen müsse, ja das Motiv hat, diese verstehen zu wollen (S. 241). Die entworfene Persona Historicus∗ vollzieht daraufhin in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Vergangenen, wie Friedemann Scriba sie nennt, Geschichtsakte. Das Profil der Persona Historicus∗ besteht, so wird nach dem Parforceritt durch überwiegend neuzeitliche philosophische Denkschulen herausgeschält,

„ - in ihrem möglichst resonanten Verhältnis zur Welt, das sie als neuzeitliches, lateineuropäisch geprägtes Selbst mit ihrem Leib unter speziellen Zeitregimen auslebt (…),

- in ihrem Bestreben, präsentierte Geschichte in ihrer Zeit- und Raumbezogenheit verstehend zu erschließen und mit Sinn zu deuten (…),

- in ihrem Affiziertsein von heterogen motivierten Imperativen zu Erinnerung im Sinne einer lebenswerten Zukunft (…) sowie

- mit ihrer speziellen Ressource, verschiedene Chronoferenzen ausbilden und multidirektional erinnern zu können.“ (S. 447)

Diese Profilierung leuchtet ein. Friedemann Scriba erläutert, dass die Persona Historicus∗ im Geschichtsunterricht je nach Vorerfahrungen und Prägungen Resonanz erfahren könne, aber nicht müsse (S. 453). Dieser Gedanke ist zentral, wenn es darum geht, Aneignungsprozesse subjektorientiert so zu gestalten, dass jede:r einen Zugang dazu findet und Resonanz erlebt. Wünschenswert wäre eine Differenzierung der Persona Historicus∗ beziehungsweise Überlegungen, ob dieses Profil für Personen mit unterschiedlichen Verarbeitungs- und Aneignungsvoraussetzungen und verschiedenen sozial-kulturellen Kontexten greift. Jedenfalls ist zu fragen, ob wirklich jede:r Historicus∗ sich durch eine „lateineuropäische Brille“ (S. 451) der Welt zuwendet. Der phänomenologische Zugang Friedemann Scribas erlaubt die Vermutung, dass jede Person unabhängig von ihren Fähigkeiten eine Persona Historicus∗ ist. Dieses mögliche, weite Verständnis wird allerdings u. a. im Fazit begrenzt (S. 464–469).

Nichtsdestotrotz überzeugt die Monographie durch ihren innovativen sowie erkenntnisreichen Zugang, der grundlegende Einblicke in das Verhältnis von Menschen und Geschichten erlaubt. Das Umkreisen dieses Phänomens gelingt Friedemann Scriba ausgesprochen fundiert und differenziert. Er leistet mit seinem Verständnis vom menschlichen Erleben von Geschichte einen Beitrag, das Konzept Geschichtsbewusstsein weiter sowie lebensweltlich zu präzisieren und die darin liegenden menschlichen Grundoperationen als zentrale Momente dessen auszudifferenzieren. Diese Leistung berührt die Fundamente geschichtsdidaktischer Theorie und beschäftigt sich, wie Friedemann Scriba selbst in der Einleitung vorwegnimmt, mit den wohl grundlegendsten Fragen der Disziplin, nämlich den „Fragen nach Sinn und Funktion von Beschäftigung mit Geschichte“ (S.15). Die Monographie sei damit allen geschichtsdidaktisch und insbesondere geschichtstheoretisch Interessierten empfohlen, die sich einen weitreichenden und gleichzeitig tiefgehenden Einblick in die komplexen Grundlagen historischen Erlebens und Denkens verschaffen möchten.

Anmerkungen:
1 Bärbel Völkel, Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte, Schwalbach / Ts. 2017.

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